Lebenserinnerungen
von Ernst Panzer, Klein-Linden
Ich wurde am 19. Februar 1899 als jüngster Sohn des Steinbildhauers
Kaspar Panzer und dessen Ehefrau Louise Panzer, geborene Reuschling, in Klein-Linden
geboren. Meine älteren Geschwister, die schon früher starben, habe ich nicht
gekannt. Da ich jüngere Geschwister nicht hatte, so war ich in meinen
Kinderjahren nur auf den Verkehr mit Nachbarskinder angewiesen.. Unser Haus stand ganz draußen als letztes auf der Straße
nach Lützellinden zu. Gleich neben unserem Haus begann das große Gemeinde
Obststück, das sich bis hinauf in das Feld ausdehnte. Wenige Schritte hinter
unserem Garten lag ein kleines Eichen- und Buchenwäldchen. Von unserem Haus schräg
über die Straße stand das Wohnhaus unseres Nachbarn Schön. Schöns Wilhelm, ein
Alterskollege von mir, hielt mit mir treue Freundschaft. "Fretze
Philipp", auch so alt wie ich und Wilhelm, war unser treuer Genosse. Wir
drei waren stets zusammen und teilten Freud und Leid gemeinsam. Es kam jedoch
auch vor, daß unsere Brüderlichkeit entzweite und ich von unserm Hof, Wilhelm
und Philipp von ihrem Hof ein regelrechtes Gefecht führten. Doch lang hielt der
Streit nie an. Bald waren wir wieder zusammen und schmiedeten unsere Pläne zu
neuen Taten.
Ich hatte ein schönes Kastenwägelchen, welches wir mit Steinen und Erde
beluden. Fried, der drei Jahre ältere Bruder von Schöns Wilhelm war unser
Anführer und Ratgeber. Unter seiner Aufsicht wurde der Wagen an den Graben, der
an unserem Hause vorbeizog gefahren. Dort wurde eine kleine Brücke gebaut, um
das Wasser, das bei Regenwetter ziemlich stark war, zu hemmen. In unseren
jugendlichen Träumen stellten wir uns schon eine große Überschwemmung vor, wo
wir uns im Winter, wenn sich Eis gebildet hatte, drauf tummeln wollten. Wenn
wir jedoch am anderen Morgen aufwachten und besorgt nach unserer Brücke
blickten, dann hatte sie das Wasser längst hinweggespült. Wir waren jedoch
nicht lange darum bekümmert und wandten uns in leichtem Jugendsein schnell
etwas anderem zu. Mein Wägelchen ging jedoch durch den vielen Gebrauch auch
bald um die Ecke. Wilhelm und Philipp gingen nun in die Kleinkinderschule. Mich
konnte jedoch durchaus niemand dazu bringen und so war ich auch öfters auf mich
allein angewiesen. Mein Onkel Adolf schickte mir zu Weihnachten einen kleinen
Leiterwagen, mit dem ich oft den ganzen Tag meinen Zeitvertreib hatte. Die
Straße, die bei unserem Haus eine ziemliche Steigung hatte, fuhr ich oft mit
ziemlicher Geschwindigkeit hinunter. Später jedoch, als wir älter wurden,
änderten sich auch unsere Freuden und Unterhaltungen.
Ostern 1905 kam ich in die Volksschule zu Klein-Linden. Weihnachten
vorher hatte ich schon einen Schulranzen bekommen und probierte den schon oft,
ehe ich überhaupt zur Schule ging, stolz an. Die freie Zeit, die mir nun noch
blieb, war jetzt immerhin kürzer gemessen wie früher. Je größer und stärker ich
wurde, je größer wurde auch mein Mut und meine
Tollkühnheit. In dem nahen Wäldchen, das ich früher schon erwähnte, übte ich
mich jetzt mit meinen Kameraden im Klettern. Bald hatte ich darin eine solche
Fertigkeit und Gewandtheit erlangt, daß ich mich oft kühn von einem Baum zu dem
nicht weit entfernt stehenden Nachbarbaum schwang. Mit meinen besorgten Eltern
hatte ich deshalb viel auszustehen. , die immer in Angst schwebten, ob ich
nicht einmal herunterfallen würde. Unsere Gewandtheit, die Bäume zu erklettern,
kam uns auch oft gut zu statten. Ich und Wilhelm hatten uns gerade einige gute
Äpfel von den Gemeindeobstbäumen geholt. Die Obstbäume reichen ja gerade bis an
das Wäldchen heran. Philipp war diesmal nicht dabei, er habe vielleicht einen
anderen Feldzugsplan oder mußte zu Hause irgendeinen ,
unter uns sogenannten, Frondienst leisten. Nun zurück zu unserem Abenteuer.
Kaum waren wir im Besitz der schönen, rotwangigen Äpfel, als auch schon hinter
uns ganz sachte der Flurschütz auftauchte. Wir beiden waren jedoch nicht leicht
aus der Fassung zu bringen. Ich strebte schnell dem nahen Wäldchen zu, damit
uns der Flurschütz nicht von ihm, unserem einzigen Rettungsort abschneiden
konnte. Wilhelm immer dicht hinter mir drein. Ich erklomm schnell einen
dichtbelaubten Buchenbaum. Wilhelm arbeitete sich mühsam hinter mir empor. Wir
hatten uns gerade in der dichtbelaubten Krone so ziemlich versteckt, als auch
schon unter dem Baum die Stimme des Hüters der Ordnung in Feld und Wald
erschallte und uns aufforderte, sofort herunter zu kommen. Der alte Mann war
aber kurzsichtig und das war unsere Rettung. Auf der Flucht hatte er uns nicht
erkannt und im dichten Geäst des Baumes konnte er uns auch nicht sehen. Wir
reagierten aber nicht auf sein väterliches Mahnen, verhielten uns im übrigen
ziemlich still und verzehrten im Bewußtsein unserer Sicherheit wohlgemut unsere
mit soviel Gefahren erworbenen Äpfel. Ab und zu warfen wir die Abfälle
hinunter, was den Mann noch mehr ärgerte. Als er aber sah, daß sein Warten
nutzlos sei, verschwand er, wie wir von unserer hohen Warte feststellen
konnten, jenseits der Straße hinter dem Dorfe, um anderswo vielleicht mehr
Glück zu haben. Wir stiegen nun auch von unserem luftigen Zufluchtsorte
herunter und nahmen uns vor, ein anders Mal die Umgebung besser nachzusehen.
Trotzdem kam es doch noch so manchesmal vor, zu unseren lieben Bäumen Zuflucht
nehmen zu müssen. und immer ging die Sache gut ab.
Ja wir wilden Buben. Im Winter waren Schlitten und Schlittschuhe unser
liebstes Vergnügen. Je toller wir mit dem Schlitten den Berg hinunter sausten,
je lieber war es uns. Gab es einmal einen Zusammenstoß oder sonst ein
Schlittenunglück, so machte das nicht viel aus. der Schnee wurde abgeschüttelt
und in das Gelächter fröhlich eingestimmt. Hinter unserem Garten lag, in das
Wäldchen eingebuchtet, eine längst verlassene Sandkaute, bei uns Kindern
kurzweg "Dall" genannt, was soviel bedeuten sollte wie Mulde oder
Tal. In der Regenzeit nun, wo der Graben neben unserem Hause hoch angeschwollen
dahin rauschte, und wir auch sonst keine Beschäftigung hatten, beschäftigten
wir und ganz mit unserem Wasser. Bald war der Graben in die Dall geführt. Wenn
wir dann am anderen Morgen nachsahen, so konnten wir mit Freude bemerken, daß
das Wasser schon um ein beträchtliches gestiegen war.
Kamen wir dann zu Mittag aus der Schule, so waren unsere Wünsche schon
vollständig erfüllt, denn wenn wir die kleinen Anhöhen rund um die Dall
betraten, so sahen wir unter uns auf einen wogenden See. Schnell wurden alle möglichen Vorbereitungen getroffen wie
Abdämmung und dergleichen, damit das Wasser bei allzu hohem Stand nicht
überfluten konnte. Aus Schwellen und Brettern zimmerten wir dann ein starkes
Floß, das, wenn auch nicht groß, so doch sehr tragfähig war. Mit einer langen
Stange steuernd wurde die immerhin weite und tiefe Wasserfläche hin und Herr
gefahren. Nasse Strümpfe gab es bei diesen Wassertouren immer und eine Tracht
Prügel zu Hause natürlich auch. Aber trotz alledem gingen wir am anderen tage
doch immer wieder gern zur Dall, denn verbotene Früchte schmecken ja
bekanntlich am besten. Trat dann der Frost ein, und eine dünne Eisdecke
bedeckte das Wasser, so waren wir auch schon wieder da und probierten, ob das
Eis auch schon tragfest sei. So hatte auch ich einmal solch einen kleinen
Unfall auf dem Eise.
Schöns Wilhelm, ich und noch eine Anzahl anderer Kameraden, dann wenn
man einmal in die Schule geht, dann lernt man die Kinder ja kennen, waren auch
auf dem Eis auf der Dall. Wir konnten uns schon ziemlich frei bewegen, denn es
hatte die nacht stark gefroren. Ich war trotz der Warnungen meiner Mutter doch
mitgegangen und tummelte mich froh gleich meiner Kameraden auf der glatten
Fläche. Meine Mutter war inzwischen einmal ins Nachbarhaus zu "
Kinfraas" gegangen. Ich hatte jedoch das Unglück auf eine Stelle zu
treten, wo das Eis noch sehr dünn war. Im Augenblick stand ich auch schon bis
an den Hals im Wasser. Während jedoch meine Kameraden noch ganz bestürzt
dastanden, hatte ich mich schon auf das Eis hinaufgezogen und stand nun da wie
ein nasser Pudel. Schöns Wilhelm sagte zu mir: " Ach bleib nur hier, das
bißchen Naß macht nicht viel aus." Ich zog es aber vor, meine Mutter in
dem Nachbarhaus aufzusuchen, da ich bis auf die haut durchnäßt war. Meine
Mutter ging dann auch sofort mit mir nach Hause. Der Weg, den ich nahm,
zeichnete sich durch eine breite Wasserstraße aus, den meine nassen Kleider
zurückließen und der auch sogleich gefror und noch tagelang Zeugnis von meinem
Wasserbad ablegte. Zu Hause angekommen, steckte mich meine Mutter schnell in warme , trockene Kleider und ich empfing sodann die
gebührende Strafe. Zur Strafe mußte ich außerdem die noch übrige Zeit des Tages
im Zimmer verbleiben.
War dann das Eis auf der Dall wieder brüchig geworden, so hatten wir
gleich wieder andere Einfälle. Das Eis wurde dann in große Schollen zerteilt
und als Floße benutzt. War eine Scholle durch das viele Hin- und Hergleiten auf
dem Wasser dünn geworden und leicht zerbrechlich, so wurde einfach eine andere
Scholle genommen. So kann ich mich auch eines kleinen Vorfalles erinnern. Ich
saß oben in den Ästen eines Eichbaumes, der direkt am Wasser stand, und sah dem
Treiben auf dem Wasser zu. Augenblicklich war die Dall von einer ganzen Anzahl
von Buben befahren. Fretze Philipp, einer meiner besten Kameraden, fuhr mit
mächtigen Stößen hin und her und das Wasser strömte zeitweise so heftig über
seine Eisscholle, daß ich dachte, sie würde untergehen. Da erschollen auf
einmal Hilferufe aus dem hinteren Teil der Dall. Ich konnte von meinem hohen
Beobachtungspunkte aus sofort erkennen, was vorgefallen war. Dort hatte sich
nämlich so ein kleiner Bengel, dem Beispiel der Älteren folgend, auch auf so
eine Eisscholle gewagt und war schon ziemlich weit aufs Wasser hinausgefahren.
Unglücklicherweise hatte er sich aber auf eine Eisscholle gewagt, die vom
vielen Floßen schon ganz dünn geworden war. Kaum war er daher auch bis auf die
Mitte des Wassers gelangt, als sein Floß in der Mitte entzwei brach und er
selber ins Wasser fiel. Auf sein Hilferufen ruderte denn auch Fretze Philipp
schnell an ihn heran, fischte ihn auf und setzte den, durch den Schrecken ganz
unfähig gewordenen, Bengel auf sein Floß. Dieses konnte jedoch die nunmehr fast
doppelte Last nicht tragen und begann sich auch schon in der Mitte zu
zerteilen. Das war ein kritischer Augenblick. Es hätte nicht viel gefehlt, so
wären sie zu zweit noch einmal ins Wasser gefallen. Schöns Wilhelm, der am Ufer
stand, hatte jedoch schnell ein starkes Floß nach der Mitte des Wassers zu
gestoßen auf das sich Fretze Philipp mit kühnem Sprung rettete. So konnte er
nun von seinem Floß aus den Geretteten vor sich her dem Ufer zustoßen und
langte auch glücklich mit ihm dort an. Ich hatte den ganzen Vorgang vom Baum
aus beobachtet und stieg nun schnell herunter, um mir auch einmal den kleinen
Meergott aus der Nähe anzusehen. Er stand natürlich von dem gehabten Unglück
völlig vernichtet da und triefte wie ein Pudel, genau so wie ich damals. das
unfreiwillige Wasserbad genommen hatte. Nachdem er dann ob seines Unglücks auch
noch verspottet worden war, begleiteten wir ihn im Triumpfe nach Hause. Hier
stellten wir noch fest, daß ihm eine gebührende Strafe zuteil geworden war und
begaben uns dann wieder mit lautem Hallo zurück bei die
Dall.
Wenn dann der Frühling kam und es wieder wärmer wurde, dann trocknete
auch die Dall schnell aus und zeichnete sich durch erhöhte Grasfruchtbarkeit durch
die gehabte Bewässerung aus. Doch wir hatten bald wieder ein neues Feld für
unsere Tätigkeit gefunden. Ungefähr eine Viertelstunde vom Dorf entfernt, auf
der Straße nach Lützellinden zu, an der auch unser Haus stand, lag das
Lützellindener Wäldchen. Dorthin lenkten wir im Frühling und Sommer oft auch
noch im späten Herbst unsere Schritte. Die Straße führte gerade mitten durch
das Wäldchen. Auf beiden Seiten war hohes Gebüsch. Die Straße ging ganz steil
hinab und machte, wo der Wald fast aufhörte, eine starke Kurve. Dieses
Wäldchen, das hier und da von Waldwiesen
durchzogen wurde, war oft unser Wirkungskreis. Zum Unterschlupf hatten wir uns
im dichten Gebüsch eine Hütte gebaut, wo wir uns im Notfalle verbargen. War Gefahr im Anzug, so
verständigten wir uns gegenseitig durch vereinbarte Laute. So schlich denn
jeder so gedeckt wie möglich durch die Büsche zur Hütte, wo wir bald alle
zusammen waren. Hier warteten wir ruhig, bis die Luft wieder rein war und zogen
dann aus zu neuen Taten. Im Frühjahr und Sommer wußten wir fast jedes Vogelnest
und gar mancher Baum wurde erklettert, um ein Rabennest auszuheben.
Wohlgemerkt, Nur Raben- und Sperbernester machten wir zur Beute. Die Nester
nützlicher Vögel waren unser strenges Geheimnis, damit sich keine unberufenen
Hände daran vergriffen. Wehe, wenn wir einen erwischten, der solch ein Nestchen
zerstörte, über den wurde streng Gericht gehalten. Mit der Zeit hatten wir auch
eine Anzahl Rabeneier zusammen bekommen und , wenn
diese nicht reichten, so füllten schnell einige Hühnereier von zu Hause die
Lücke aus. An einem verabredeten Tag sollte nun der Eierkuchen gebacken werden.
Auf einen schulfreien Nachmittag setzten wir es denn auch ins Werk. Vor dem Dorfe traf unsere Verbindung
zusammen. Der eine hatte eine Pfanne, der andere Fett und wieder ein anderer
Mehl mitgebracht und so hatte jeder sein Scherflein beigetragen. Auf dem Felde,
nahe beim Lützellindener Wäldchen hatten wir ein mächtiges Feuer entfacht. Unsere Eier wurden in die Pfanne geschlagen
und gebacken. Bald war der Kuchen soweit und wie auf ein geheimes Zeichen
stürzten wir uns auf die Pfanne. Jeder suchte ein möglichst großes Stück von
dem Eierkuchen zu erhaschen. Bald war nichts mehr da, als einige kleine
Überreste, die bei der Rauferei umhergeflogen
waren. War er auch noch nicht ganz gebacken, gut hatte er doch
geschmeckt, hatten wir doch dazu den Stoff geliefert und unsere Hände hatten
ihn erstehen lassen.
Kam jedoch die heiße Zeit des Hochsommers, so weilten wir nicht lange
im Schatten des Lützellindener Wäldchens, sondern durchquerten auf der Straße
das Wäldchen, um eine Viertelstunde jenseits desselben an der Lückenbach halt
zu machen. Hier war unser Badeplatz Hier muß ich noch bemerken, daß es mir von
meinen Eltern streng verboten war, in der Lückenbach zu baden, da sie
befürchteten, es könnte mir in dem nicht eben sauberen Bach etwas zustoßen.
Dieses verbot habe ich dann auch nie übertreten und meinen Körper den
gurgelnden Wellen nicht anvertraut, obwohl ich fast immer dabei war, wenn es
baden ging. Kaum waren meine Kameraden am Badeplatz angelangt, so hatten sie
sich auch schon ihrer Kleider entledigt und verschwanden in den kühlen Wellen,
so daß mich oftmals auch die Lust ankam mich in die Fluten zu stürzen und ich
nur sehe schwer der Versuchung widerstehen konnte. Fretze Philipp war ein
besonders leidenschaftlicher Wassermensch und lag oft stundenlang in dem nassen
Elemente. Schöns Wilhelm badete ja auch gern, aber doch nicht mit solcher
Begeisterung wie eben Fretze Philip. Ich ging dann zur Entschädigung jeden
Samstag ins Gießener Volksbad in die Schwimmhalle, wo ich wenigstens sauberen,
glatten Boden unter den Füßen, und reines Wasser zum Waschen und Schwimmen
hatte.
Wurde dann die Luft wieder kühler, die Sonne schien nicht mehr so heiß
und die Wälder nahmen schon eine herbstliche Färbung an, dann gehörte auch
wieder das Baden in das Reich der
Träume. Waren die Kartoffeln ausgemacht, wo wir natürlich schon tüchtig
mitarbeiten mußten, so streiften wir die Felder ab und zündeten dann, wo das
dürre Kartoffelstroh noch liegen geblieben war, mächtige Feuer an, die wir
dann, wenn der Abend schon hereinbrach und sie recht weit leuchteten, singend
und schreiend umstanden. Oft auch zog ich mich mit einigen Kameraden, ein
kleines Säckchen auf dem Rücken, auf abgeerntete Kartoffeläcker und las die
wenigen noch hier und da liegen gebliebenen Kartoffeln zusammen, die dann zu
Hause zum Füttern der Ziegen oder des Schweines verwandt wurden, damit die
Speisekartoffeln eher für den Haushalt übrig blieben.
Mit den Nachbardörfern lagen wir Knaben auch gar oft im Streit. Am
meisten aber hatten wir mit den Allendörfern und Großen- Lindenern zu kämpfen.
Diese Schlachten wurden gewöhnlich Sonntag Nachmittag
geliefert. Wir vereinbarten uns dann schon samstags in der Schule, wo sich die ganze Konsorte treffen sollte und mit welchem
Schlachtplan wir die Großen- Lindener überfallen wollten. Gewöhnlich setzten
wir uns in den Steinbrüchen bei dem Ringofen
fest, wo wir reichlich Material an Steinen zu dem Gefecht hatten. Von
hier aus wurde der heranziehende Feind mit tüchtigem Steinhagel empfangen. Bald
war hier und da ein Kämpfer außer Gefecht gesetzt, da er durch einen Steinwurf
ein Loch in den Kopf bekommen hatte und er sich an einem geschützten Ort mit
seiner Wunde beschäftigte.
War die feindliche Stellung sturmreif geworden, das heißt hatte er so
viele Kämpfer verloren, daß man dachte, ihn vertreiben zu können, so wurde das
Zeichen zum allgemeinen Angriff gegeben.
Mit lautem Hurra und heftigem Steinfeuer stürmten wir dann auf ihn los. Die
Großen- Lindener, ihre hoffnungslose Lage einsehend, räumten schnell das Feld
und flüchteten den Berg hinunter. Wir mit lautem Hallo hintendrein. Den Weg,
den die Verfolgung nahm, kreuzte jedoch die ziemlich hochgeschwollene Lückenbach. Der Feind war nun
in eine Enge getrieben. Wir im Rücken und vor sich den schnell dahin
strömenden Bach. Aber sie doch ein
nasses Bad vor. Wir waren jedoch im Siegestaumel und folgten ihm kurz
entschlossen nach. Bis vor die ersten Häuser des Ortes trieben wir den völlig
geschlagenen Feind und kehrten dann mit Genugtuung erfüllt zurück. Diese Kämpfe
entspannen sich hauptsächlich über das Recht auf das Eis. Die Großen-
Lindener wollten nämlich immer das
Vorrecht auf dem Eise haben. Durch solche Siege verhalfen wir uns dann immer
wieder zu unserem Recht.
Ich für mein Teil war nicht viel bei solchen gefährlichen
Unternehmungen dabei, da mir das auch sehr streng von zu Hause untersagt war
und auch solche Kämpfe ganz exemplarisch in der Schule bestraft wurden. ;mit den Allendörfern war es ganz genau dasselbe. Mit den
Lützellindenern konnten wir ja kurzen Prozeß machen, denn die mußten ja
unbedingt durch unseren Ort, wenn sie nach Gießen wollten. Hier konnten wir ihnen aufpassen und sie ungehindert bestrafen. So hatten wir
fast für jeden Sonntag ein neues Unternehmen. Es gab jedoch im Herbst und
Winter auch Tage, an denen an ein aus dem Haus gehen überhaupt nicht zu denken
war. Trüb, regnerisch und stürmisch, daß man froh war, im warmen Zimmer bleiben
zu können. Im Winter kamen wir um zwölf Uhr aus der Schule, weil der Unterricht
erst um acht bzw halbneun begann. Meine Schulaufgaben, die wir morgens schon
aufbekamen, machte ich stets zwischen 12 und 1 Uhr.,
damit ich nachmittags oder gar abends keine Arbeit damit hatte. Das ich meine
Schulaufgaben aufhob bis zum Abend oder gar am anderen Morgen, wie so viele
meiner Kameraden taten, ist mir nie vorgekommen. Erst, wenn ich alle meine
Sachen erledigt hatte, konnte ich ruhig zum Spiel gehen. War das Wetter sehr
schlecht, schlecht durfte es schon sein, wir wurden trotzdem doch ziemlich
gedrillt, so fiel die Turnstunde
freitags von 1 bis 2 Uhr aus. Von 2 bis 3 hatten wir dann wieder in der
Schule Unterricht. Meine Schulkameraden benutzten diese freie Stunde zu
allerlei Unglücksstreichen oder sonstigen wenig rühmenswerten Taten. Philipp
und ich benutzten diese freie Stunde immer, um die Volksbiliothek in Ordnung zu
halten. War ich doch der Erste und Philipp der Zweite in der Klasse oder wie
man bei uns zu sagen pflegte, der Oberste und der Zweitoberste. Während der
Turnstunde hatten die Mädchen Strickstunde. Wenn wir beide dann kamen und
Bücher einbanden und was wir sonst noch alles trieben, so war das den
Strickfräulein nicht sehr angenehm, denn wir arbeiteten eben nicht sehr geräuschlos
und die Mädchen sahen auch mehr auf unser Treiben als auf ihre Strickarbeit
oder was sie sonst hatten. Hatte die hiesige Heimatvereinigung einen
Unterhaltungsabend, so mußten wir die Eintrittskarten immer schon einige Tage
vorher abstempeln, was wir uns natürlich immer für die Strickstunde
einrichteten. Das harte Aufdrücken der Stempel machte aber einen solchen Radau,
daß uns die Stricklehrerin oft Blicke zuwarf, die uns jedoch keineswegs
bewogen, unseren Spektakel einzustellen. Darunter hatten natürlich auch die
Mädchen zu leiden, die durch Unaufmerksamkeit manche Dummheit machten. Für die
Bibliothek leibte und lebte ich. Sie immer in Ordnung zu haben, war mein Stolz.
Durch den vielen Umgang mit Büchern angeregt, wurde ich auch ein leidenschaftlicher
Leser. Kam ich nachmittags aus der Bibliothek heim, so konnten mich selbst
meine Kameraden nicht von den Büchern wegbringen. Ich hatte deshalb auch viel
mit meinen Eltern zu kämpfen, die das viele Lesen absolut nicht leiden konnten
und noch jetzt, nachdem ich schon viele Jahre aus der Schule bin, ist das Lesen
noch meine Leidenschaft. Nun zurück zu unserer Bibliothekstunde. War es dann 2
Uhr geworden, wurde die Strickschule geschlossen und auch unsere Kameraden
fanden sich ihres wilden Herumtollens müde, bei der Schule ein. Auch ich und
Philipp gingen dann noch einen Augenblick auf den Schulhof, um die Heldentaten
der Kameraden anzuhören. Bald aber war die kurze Pause herum und die erhitzten
Gemüter fanden sich wieder im Schulsaal
zusammen. Noch ganz aufgeregt von den wilden Jagden vorher, wußten sie
meist keine rechte Antwort oder doch ganz verworrene zu geben, was meist zu
recht ergötzlichen Zwischenfällen führte. Schöns Wilhelm war immer einer von
den Wildesten und ich möchte auch fast sagen, den Gleichgültigsten. Er war auch
nicht besonders begabt und saß deshalb ziemlich weit unten. Wenn es während dem
Unterricht irgend etwas Dummes oder Lächerliches gab,
so konnte man ganz sicher annehmen, daß Schöns Wilhelm daran beteiligt war. Unser alter Lehrer, der
sehr leicht aus der Fassung war, fragte auch nicht lange, da unser Freund Schön
so ein Übeltäter war und verabreichte ihm, wenn auch manchmal unschuldig ein
gehörige Tracht Prügel. Geschadet hat es wahrlich nichts, denn er war und blieb
ein Unverbesserlicher. Was ich soeben erzählte, spielte sich ausschließlich in
meinen zwei letzten Schuljahren ab. Ich möchte dann auch noch etwas von meinen
früheren Schuljahren berichten. In die Schule bin ich gern gegangen, aber nicht
immer gleich gern bei alle Lehrer. In meinen ersten
Schuljahren ereignete sich für mich nichts Bedeutendes. Jeden Morgen pilgerten
Philipp, Wilhelm und ich einträchtlich zur alten Schule, die in der Wetzlarer
Straße steht Im Winter gingen wir durch die Lützellindener- und Wetzlarer Straße,
im Sommer, natürlich nur, wenn es trocken war, sprangen wir schnell durch die
hinter unserem Haus gelegene "Hohl", eine tiefe Schlucht, und hatten
so in ganz kurzer Zeit unser Ziel erreicht. Nach 3 Schuljahren siedelten wir in
die neue Schule über, die ihren Standpunkt in der hoch gelegenen Schulstraße,
neben der Kirche, hatte. Hier war der Schulhof nach der Straße hin nicht mit
Geländer verwahrt und so hatten wir hier auch eine viel größere
Bewegungsfreiheit. Gar oft wir auch, und in erster Linie ich den Lehrern
Frondienste leisten, worüber wir uns noch Jahre nachher, wenn wir schon längst
nicht mehr in ihrer Klasse waren, geärgert haben. Ausnehmen davon muß ich
unseren letzten Lehrer, der, wenn wir ihm einen Dienst taten, und das taten wir
auch gern, stets reichlich belohnte und uns auch
unsere Schulaufgaben dementsprechend erließ. Doch davon genug Die Morgenstunden hielt immer unser alter
Lehrer Boßler, während montags und donnerstags Mittag der Schulverwalter, der
die Elementarklasse leitete, und Unterricht gab, da die Arbeit sonst für den
alten Herrn zu viel geworden wäre. In meinem zweitletzten Schuljahr war der
betreffende Schulverwalter, ein Herr Melior, ein sonderlicher Kauz. Klein und
mager machte seine Person keinen besonderen Eindruck auf uns Schüler. Schon in
der ersten Stunde, die er uns gab, führte er sich, nach meiner Ansicht, nicht sehr gut ein. Er hatte keine Energie
und Tatkraft und das war ein großer Fehler, denn die großen Predigten,
Ermahnungen und Warnungen fielen bei uns bösen Buben doch auf keinen guten
Boden. Er mag ja wohl ganz gute
Absichten und guten Willen gehabt haben, uns etwas bei zu bringen, aber es
gelang ihm nicht, denn er war eben nicht dazu berufen und hatte kein Talent
dazu zu lehren und zu erziehen. Wenn er dann sah, daß alles reden nichts half,
dann versuchte er es auch einmal mit körperlichen Züchtigungen. Doch da konnte
er uns nicht imponieren. , denn er war ein schwaches Kerlchen und konnte uns
nicht viel anhaben. Nicht viel mehr Glück hatte er mit schriftlichen Arbeiten,
die er uns als Strafe auferlegte, denn, da wir eben keinen Respekt vor ihm
hatten, so wurde diese öfters nicht ausgeführt. Wir bekamen von ihm Unterricht
in Geographie und Physik. Daß ich in diesen beiden Fächern in dem betreffenden
Jahre, wo Melior Unterricht erteilte, fast gar nichts gelernt habe, kann ich
ruhig behaupten. Dabei sagte er öfters " Ihr werdet im späteren Leben noch
an mich denken". Ja das ist wahr, wie oft habe ich noch später, als er
schon nach Darmstadt versetzt worden war, an ihn gedacht, aber nicht mit
dankbarem Herzen, sondern mit sehr undankbarem Herzen, daß ich gerade einem
solchen Lehrer in die Hände fallen mußte, bei dem ich so wenig lernen konnte.
Hier fällt mir noch eine kleine
Begebenheit ein, die sich unter Meliors Herrschaft ereignete. Ludwig Jung, der
letzte von der ersten Abteilung, saß auf meiner Bank zuerst, dann kam ich, dann
Fretze Philipp und dann Wilhelm Volkmann oder wie er bei uns hieß, Adlerwirts
Wilhelm. Der 5. auf der Bank fehlte, er hatte sich woanders zu Kollegen
gesetzt, denn wir setzten uns ja doch in Meliors Stunde, wie wir gerade
wollten. Wir hatten zu Hause eine
Zeichnung von der Balkan- Halbinsel gemacht, die wir nun vor uns auf
die Bank legen mußten. Melior ging dann an den Bankreihen vorbei und besah sich
unsere Meisterwerke. Fretze Philipp hatte diesmal keine Zeichnung gemacht und
war deshalb sehr in Nöten. Als Melior am oberen Ende der Bankreihen vorbei
ging, war Philipp ganz ans untere Ende der Bank gerückt. Melior lobte sehr
unseren Ludwig Jung, seine Zeichnung, sehr zu unserem Befremden, denn Jung
lieferte nie etwas anständiges. Nachdem er noch meine
Zeichnung mit Kennerblick gemustert hatte, ging er weiter zu den nächsten
Bänken. Inzwischen kam Fretze Philipp schnell die Bank heraufgerutscht und
sagte zum Ludwig Jung: Ludwig, gib mir schnell Deine Zeichnung her oder Du
kriegst heute Nachmittag eine Tracht Prügel! Ludwig gab die Zeichnung, wenn
auch wiederstrebend her, denn die Furcht vor Strafe wirkte gewaltig. Philipp
hatte gerade noch Zeit wieder nach unten zu rutschen, als auch schon Melior am
unteren Ende erschien. Schnell legte Philipp seine eroberte Zeichnung vor.
Kritisch betrachtete Melior die vorhin
so sehr gelobte Zeichnung und Philipp dachte schon, jetzt bekommst Du
auch ein Lob. Nach einigen bangen Sekunden ließ Melior seine Stimme vernehmen:
" Die sieht ja aus, als wärs Vorderindien!" Wie auf Kommando brachen
wir in ein schallendes Gelächter aus, erstens über den komischen Vergleich und
zweitens, weil er die wenige Minuten vorher so belobte Zeichnung plötzlich
herunter setzte und als ganz schlecht bezeichnete. Wirklich, eine schnelle
Geschmacksveränderung. Die Hauptsache aber war, daß Philipp zu einer Zeichnung
gekommen war, gut oder schlecht, das war ihm ja ziemlich gleich. Solche und
Ähnliche Vorfälle kamen fast in jeder Stunde vor. Hatte zum Beispiel jemand
seine Arbeit nicht gemacht und konnte auch keine geliehen bekommen, so rutschte er, wenn Melior an den
oberen Bänken vorbei ging, nach unten und, wenn er an den unteren Enden vorbeiging, nach oben und entging so
oft der nicht sehr scharfen Kontrolle Meliors.
An dieser Stelle will ich auch noch kurz von dem Pfarrer berichten, der
in dem Jahre, wo Melior wirkte, in unserer Gemeinde tätig war. Er hieß Rieder
und war aus der katholischen Kirche in die evangelische Kirche übergetreten.
Als ich das schon hörte und ihn auch selber sah mit seinem finsteren und nie
freundlichen Gesicht, konnte er mein Zutrauen nicht gewinnen. Seine Predigten,
seine Antrittspredigt hat er auf Sylvester 1910 gehalten, waren ja
durchschnittlich gut. Aber im Verkehr mit den Einwohnern und in der Schule war
er nicht zu loben. In der Religionsstunde war er äußerst streng und gebrauchte
auch Ausdrücke, die sich für einen Pfarrer am wenigsten ziemen, wie "faules
Pack", "gottlose Bande" und dergleichen mehr. Seine Strafen
waren, etwas sechsmal oder ein Dutzend Mal abzuschreiben, wobei er das
"u" in Dutzend recht in die Länge zog. Außerdem ließ er die Kinder
die Hände ausstrecken und schlug ihnen dann mit dem Stock darauf. Ging er über
die Straße, so trieb er es noch ganz anders. Sah er eine Anzahl Knaben auf der
Straße zusammen stehen, so kam er schnell herbei, schalt sie "unnützes
Pack", "elendes Straßenvolk" die untätig zusammen stehen und es
ist sogar einmal vorgekommen, daß er einem Buben eine Ohrfeige gab, weil er
eben auf der Straße stand. Daß er sich unter solchen Umständen bei Kindern wie
bei Erwachsenen sehr unbeliebt machte und mehr gehaßt als geliebt wurde, ist
leicht zu verstehen. Aber auch ihm schlug die Trennungsstunde von Klein- Linden
und es hat ihm auch sicherlich niemand nachgeweint. Er hat eben nur Unangenehme
Erinnerungen zurück gelassen, genau wie auch Melior.
Aber auch uns Schülern leuchtete das Morgenrot einer neuen Zeit. Als
ich in das letzte Jahr meiner Schulzeit eintrat, kam auch ein neuer
Schulverwalter, der Nachfolger Meliors. Diesmal hatten wir aber Glück gehabt,
denn er entpuppte sich als ein sehe tüchtiger Mann, der seine Sache verstand.
Er hieß Wilhelm Heinrich Seipp und stammte von der halbe Stunde von Klein-
Linden und einige Minuten von Leihgestern gelegenen Rindsmühle, die allerdings
jetzt schon lange nicht mehr im Betrieb ist, sondern als Wirtschaft
eingerichtet ist. Ehe er nach Klein- Linden kam, wirkte er als Schulverwalter
in Obbornhofen, seiner ersten Stellung. Nun, ums kurz zu fassen, er führte sich
nach meiner Ansicht sehr gut bei uns ein. Das war so: Wir saßen alle schon
gespannt auf unseren Plätzen, wartend der Dinge, die kommen sollten. Da ging die Tür auf und herein trat unser
neuer Lehrer. Nicht gerade groß, sondern ich möchte fast sagen, von kleiner,
gesetzter Gestalt. Prüfend überblickte er die Klasse und setzte sich dann auf
den Katheder, um sich die Namen der Schüler zu notieren. Er sprach mit etwas
hoher Stimme und sofort fingen einige der Buben zu kichern an, wie das bei
Melior so Sitte gewesen war. Aber unter Seipps Herrschaft sollte es anders
werden. Sofort strafte er die beiden Übeltäter so gründlich, daß ihnen Hören
und Sehen verging. Augenblicklich war es still. Diese Strafe des kleinen
Vergehens war , meiner Ansicht nach, sehr am Platze, denn damit hatte er sich
einen Respekt und eine Achtung geschaffen, die ihm bis zum Ende meiner
Schulzeit auch glänzend gewahrt blieben. Und gelernt haben wir auch etwas bei ihm,
wir wurden sozusagen in ihm entschädigt für das vergangene Jahr. In der ersten
Zeit war er sehr streng, als er aber dann unsere Klasse in Ordnung hatte,
setzte er auch seine feundschaftliche Seite auf. Aber es war gleich ein ganz
anderer Betrieb wie bei Melior, denn Lehrer Seipp verstand es meisterhaft, zu
lehren und zu erziehen und in kurzer zeit hatte er sich die herzen seiner
Schüler gewonnen. Er gab und Unterricht in Geographie und Singen, denn er war
auch ein guter Musiker und spielte viele Instrumente. Ich war gleich mit ihm
gut bekannt und bin auch heute noch sehr gut mit ihm befreundet. Oft bin ich
ganze Nachmittage bei ihm auf seinem Zimmer gewesen und habe mich mit ihm
unterhalten über dies und jenes, über die Schularbeiten und andere Sachen.
Aber das Unglück wollte es, daß diese Beziehungen auf kurze zeit
gestört wurden, jedoch ohne mein Verschulden. Ich will die Begebenheit hier
kurz anführen. Wir gingen morgens um Viertel nach 8 Uhr in die Schule, während
in der Elementarklasse, die Lehrer Seipp hatte, erst um 9 Uhr anfing. Wir
hatten an diesen Morgen von Viertel nach 8Uhr bis 9 Uhr mit dem Pfarrer
Religionsstunde. Wir waren jedoch einige Minuten im Klassensaal und der Pfarrer
kam immer noch nicht. Was sollte ich tun. Die Kinder hielten einen Krach und
einen Radau, aber der Pfarrer kam immer noch nicht. Kurz entschlossen machte
ich mich auf den Weg nach Bernhardshausen, Viertel Stunde Wegs von der Schule,
wo der Pfarrer wohnte, um festzustellen, wann er käme und ob er überhaupt käme.
Als ich aber an seine Wohnung kam, war dieselbe verschlossen und er war nicht
zu Hause. Ich konnte nun nichts weiter tun, als mich wieder auf den Weg zur
Schule zu machen. Kurz vor 9 Uhr kam ich wieder bei der Schule an und die
Religionsstunde war verstümmelt worden. Mittags sollten wir Konfirmandenstunde
haben, ich ging aber nicht hin, denn ich dachte, wenn der Pfarrer morgens nicht
da war, so war er doch sicher auch mittags nicht da. Kurz nach 1 Uhr kam jedoch
jemand und rief mir, ich müßte in die Schule kommen. Ich ging auch hin, aber es
war kein Pfarrrer da, sondern Lehrer Seipp. Die Landkarte war schon aufgehängt,
auch eine Anzahl Schüler waren schon erschienen. Sofort rief mich Lehrer Seipp
zu sich und fragte mich, warum ich ihn heute Morgen nicht gegrüßt hatte. Ich
wußte ihm keine Antwort zu geben, denn ich hatte ihn am Morgen gar nicht
gesehen. Ehe ich mich versah, hatte aber eine solche Ohrfeige gefaßt, daß ich
nur so weg flog. Ich glaube eine solche Wut wie in diesem Augenblick, habe ich
selten gehabt. Ich begab mich furchtbar aufgeregt sofort an meinen Platz.
Lehrer Seipp schloß auch sofort den Unterricht, denn er war selber sehr
aufgeregt. Ich saß ganz fassungslos den ganzen Nachmittag zu Hause, denn
erstens war die Ohrfeige nicht von Pappe und zweitens, was mir noch das
Ärgerlichste war, wußte ich gar nicht, warum ich überhaupt bestraft worden war.
Ich erzählte meinem Vater, der am Abend nach Hause kam, die Sache und der ging
denn auch gleich zu Lehrer Seipp, um festzustellen, was denn nun eigentlich der
Grund von allem war. Gespannt erwartete ich die Rückkehr meines Vaters, der
denn auch nicht allzulange auf sich warten ließ. Lehrer Seipp hatte ihm denn
auch sehr freundlich empfangen und ihm Auskunft gegeben. Die Sache verhielt
sich nun so. Als ich am Morgen vom Pfarrer gekommen war, hatte Lehrer Seipp vor
der Kirche gestanden und seine Uhr gestellt, denn er ging um diese Zeit in
seine Klasse. Ich war so in Gedanken versunken den Backhausweg heraufgekommen
und schenkte meiner Umgebung nicht viel Aufmerksamkeit. Ich war dann nicht vor
der Kirche her gegangen, denn dann hätte ich ja mit Lehrer Seipp zusammentreffen müssen, sondern
hinter der Kirche hergegangen, weil ich da schneller in der Schule war. Ob ich
nun einen Blick auf den Kirchenplatz geworfen habe oder nicht, das weiß ich
nicht mehr so genau, daß ich da jemand stehen habe sehen, kann auch möglich
sein, daß ich aber in dem Augenblick an Lehrer Seipp gedacht habe oder
überhaupt nachgedacht habe, wer das sein könnte , der dastand, ist ganz
ausgeschlossen, denn im anderen Falle hätte ihn doch unbedingt gegrüßt. Und
dann kommt noch dazu, daß ich Kurzsichtig bin und ich ihn auch, wenn ich genau
hingeguckt hätte, sicher nicht gekannt haben würde. Jedenfalls hatte Lehrer
Seipp angenommen, ich hätte ihn gekannt und mit Fleiß nicht gegrüßt und so war
ich zu der Ohrfeige gekommen. Als wir dann die nächste Stunde bei ihm hatten,
erzählte er den Sachverhalt vor versammelter Klasse und entschuldigte sich bei
mir nochmals. Somit war dann die Sache ins reine gekommen und wir wurden wieder
die besten Freunde, wie zuvor.
Ich will dann kurz von unserem Pfarrer berichten, der nach Rieders
Abgang in unserer Gemeinde tätig war. Er hieß Bröckelmann, stammte von Laubach
und war vorher in Hangen-Weisheim tätig gewesen. Groß von Gestalt, sah man ihn
immer mit Riesenschritten dahin eilen. Aber machte es nicht wie Rieder, hatte
für jedermann ein freundliches Wort und war überall gern gesehen. Und so war er
auch in der Schule und deshalb lernten auch die Kinder gern für ihn. Er gab uns
Konfirmandenstunde und hat uns auch konfirmiert. Doch davon nun genug. Nachdem
wir noch einen gemeinsamen Klassenausflug auf den Hoherodskopf im Vogelsberg
unternommen hatten, wurden wir am 15.März 1913 aus der Schule entlassen. An
diesem Morgen sollte mir jedoch noch ein kleines Unglück zustoßen. Bei uns ist
es Sitte, daß man am letzten Schultage seine Griffel unter diejenigen verteilt,
die Schule noch weiter besuchen müssen. Ebenso kriegt man auch seine Schwämme
abgeschnitten. So kam denn auch ein Alterskollege von mir auf mich zu gerannt.
Ich denke, was will der von mir und drehe mich so halb herum. Der haut auch
schon mit seinem Messer das Kordel der Schwämme durch und mir in die Hand. Das
Blut floß gleich tüchtig, denn die Wunde war tief. Ich eilte schnell zum
Rechner Germer, der bei der Sanitätskolonne war und mir die Wunde verband. Sie
heilte auch schnell, so daß Ostern die Hand schon vom Verband frei war. Die
Narbe aber bleibt mir stets als Andenken an meine Schulentlassung. Das muß ich
sagen, in dem Augenblick, wo uns unser Lehrer verabschiedete, hat es mir
wirklich leid getan, nun vollständig mit der Schule abgeschlossen zu haben.,
denn jetzt begann für uns der Ernst des Lebens. In der 14 tagen, die wir nun
noch frei hatten, hatten wir nun Zeit, uns noch zu tummeln, da das nun doch
bald ein Ende hatte. Ich bin auch, glaube ich, nie soviel von zu Hause weg
gewesen, wie gerade in diesen letzen Tagen. Morgens gingen wir in den Wald und
holten Moos, das dann mittags in den Scheuern von verschiedenen Mädchen
verarbeitet wurde. Natürlich waren wir Buben regelmäßig dabei, obwohl wir ja
nichts weiter als Dummheiten machten. Eines Tages aber, wir waren gerade im
letzten Haus und hatten Girlanden soweit fertig, sollten wir aber noch ein
Abenteuer haben. Es war dies auch das letzte vor unserer Konfirmation. Wir
waren nämlich des langen Sitzens in dem Zimmer müde und wollten noch einen
kleinen Abstecher in die Wiesen machen. Wir viel zusammen, 10 oder 15 Knaben an
der Zahl.
weitere Aufzeichnungen gelten leider als verloren.
Übernommen aus dem Fragment eines
alten Manuskriptes, welches ich vor Jahren von meiner Schulkollegin Marianne
Weigel, heute Müller erhielt.
Übertragen: Helmut Drolsbach,
Lollar
Ernst Panzer, Buchdruckerlehrling, starb am 20. Juni 1915 im Alter von 16 Jahren.